Stand der Dinge im März 2022

Wir sind kein Opfer!

Im März mit Elli R.

CW: Sexualisierte Gewalt/K.-o.-Tropfen

Liebe Leser*innen,

ich habe heute die Chance bekommen, mich an Euch zu wenden. Um genau das „Wir sind kein Opfer“ zu verkörpern und allen Überlebenden von sexualisierter Gewalt eine Stimme zu geben.

Ich bin Elli, 35. Sexualisierte Gewalt und Sexismus waren bis vor vier Jahren normal in meinem Leben – wie Mittagessen gehörte es zu meinem Alltag. Es war normal durch Bekannte/Freunde oder neue bzw. fremde Menschen sexualisiert zu werden und keinen Konsens zu erfahren. Bis ich mit einer Traumatherapie anfing, mein Leben und alte Muster komplett auf den Kopf zu stellen. Jetzt ist mein Blick klar und ich weiß, dass niemand schuld ist, außer die Täter. Ich konnte diesen Kreislauf komplett durchbrechen und Wünsche mir nichts mehr als anderen Menschen und vielleicht sogar Euch dadurch die Augen zu öffnen. Damit das Leben nicht länger als ein Überleben gefühlt wird.

Zu meinen Gewalterfahrungen zählen zwei Vergewaltigungen (im Alter von 19 und 28), ein retraumatisierender Übergriff mit 33, sexueller Missbrauch in meiner Jugend (im Alter von 12 bis 14 Jahre) und gewaltvolles und sexuelles Fehlverhalten in der Kindheit.

Nach meiner Vergewaltigung vor sechs Jahren, wurde mir bewusst, dass das Leben so nicht weitergehen durfte. Ich zeigte den Täter direkt am Tag nach der Tat an. Da ich die vorherigen Täter nicht angezeigt habe, habe ich damit ein Zeichen für mich und alle anderen Menschen setzten wollen. Diese Anzeige und das laufende Verfahren waren sehr traumatisierend. So dass am Ende wegen fehlerhafter Beweisaufnahme, Beamt*innen-Wechsel und falscher Beschuldigungen die Anzeige eingestellt wurde. Ich habe mich aus einem sehr schweren Tief kämpfen müssen und bin froh niemals Hass und Verbitterung in mein Herz gelassen zu haben.

Erst nach einem schweren Autounfall vor vier Jahren, bin ich auf Instagram aufmerksam geworden. Durch das Öffnen im Bereich Traumata & PTBS1, kam ich nach und nach mit Menschen in Kontakt, die ähnliches erlebt haben. Ich fand so meine Stimme wieder. Mittlerweile bin ich fest vernetzt mit wahnsinnig vielen starken Menschen & Überlebenden und sehr stolz auf unsere Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, die wir täglich leisten. Mit meinem Account mission_sanftmut, der Safe Place und aktivistisch in einem ist, möchte ich sanft und mutig auf Traumata, Gefühle, Ethik aufmerksam machen und die Themen beleuchten, die im System eben nicht richtig laufen. Ich versuche über diesen Account möglichst viel Hilfestellung zu geben und Institute und Organisationen zu supporten.

Wir sind nicht von Geburt an dazu verdammt, uns vor sexualisierter Gewalt durch „angemessene Kleidung“, „Selbstverteidigungskurse“ oder „Pfeffersprays“ zu schützen und zudem sexuelle Übergriffe bitte schnell zu vergessen, einfach weiterzumachen, abzuhaken. Wir sind dazu geboren, um frei zu sein und Sexualität einvernehmlich zu erleben.

Vielleicht hast du Lust, mit uns Laut zu sein und gemeinsam eine Revolution ins Rollen zu bringen. Wir sind viele und können gemeinsam viel bewegen.

1 PTBS: Posttraumatische Belastungsstörung