Stand der Dinge im Juni 2021

Auf ein Wort mit Romy Stangl

#häuslichegewalt

CW: Häusliche/sexualisierte Gewalt

In den letzten Jahre befasste und befasse ich mich intensiv mit dem, was uns an Gewalt und Missbrauch umgibt. Es war und ist auch immer wieder eine bewusste Reise in meine Geschichte, die von häuslicher Gewalt geprägt war. Eine Reise, die viele verschlossene Türen wieder geöffnet hat und Traurigkeit, aber auch Entschlossenheit mit sich gebracht hat.

Ich lebe im Hier und Jetzt und schaue nach vorne, nicht mehr zurück. Ich gebe den Täter*innen keine Energie mehr in meinem Leben und kann so meine inneren Verletzungen heilen, in dieser neue Kraft vorwärts gehen und am immer noch täterorientierten System in Deutschland rütteln sowie proaktiv handeln im Rahmen der mir gegebenen Möglichkeiten.

Ich teile den Schmerz aller Betroffenen von Gewalt und Missbrauch, die schreckliche Zeiten durchlebten und durchleben. Wir wissen von so vielen Menschen, die jeden einzelnen Tag Gewalt und Missbrauch erfahren haben und erfahren, und sie werden von so vielen Instanzen und im gesellschaftlichen Denken einfach nicht gesehen. Aber Betroffene sind nicht unsichtbar. Viele dieser Instanzen, wie Gerichte, die Medien und der Staat tun vordergründig so, als wären wir ihnen wichtig, aber angesichts dessen, was über Jahrzehnte einfach nicht passiert – Gerechtigkeit, Veränderung, Hoffnung und die Dinge klar zu benennen, entsteht der Eindruck, als wären ihnen die Menschen, die hinter diesen Schicksalen stehen, gleichgültig.

Wenn Täter*innen bei Missbrauch und Gewalt sofort aus dem Verkehr gezogen würden – wer weiß, wie viele Menschen gerettet werden könnten. Statistisch gesehen wird in Deutschland alle 45 Minuten eine Frau Opfer von gefährlicher Körperverletzung durch Partnerschaftsgewalt und es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer noch wesentlich höher liegt.

Deutschland führt aktuell die FEMIZID-STATISTIK in Europa an: 177 Männer (Ehemänner, (Ex-)Partner, Väter, Söhne, Brüder, Nachbarn etc.) töteten 2021 bis heute bereits 79 Frauen und 12 Mädchen und 5 Jungen und 1 Baby, (sowie 4 Männer) und verletzten 104 weitere Frauen, 2 Kinder und 3 Männer zum Teil lebensgefährlich und bedrohten 2 Frauen und 4 Kinder. Eine Frau wird vermisst.

Nahezu 9.000 Frauen werden laut Statistik jährlich Opfer von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Hinter diesen Zahlen stehen Schicksale. Schicksale von weiblich gelesenen Menschen, welche selten Gehör finden. Wer weiß, wie viele gerettet worden wären oder gerettet werden könnten, würde ihnen jemand wirklich zuhören. Es ist an der Zeit, dass die Stimmen der Betroffenen endlich gehört werden.

Wir brauchen einen gesetzlich bindenden Rechtsanspruch auf Schutzunterkunft für Betroffene von häuslicher Gewalt, eine realistische Bedarfsermittlung von Schutzeinrichtungen, eine umfassende Sensibilisierung der Gesellschaft zur Zivilcourage, Präventionsarbeit an den Schulen und eine umfassende Ressourcenschaffung für Täterarbeit.

Häusliche Gewalt geht uns alle an. Die Gesellschaft sollte proaktiv und mit Zivilcourage handeln, die Gesetze sollten Pro-Betroffene und nicht Pro-Täter aufgestellt sein, so dass im Sinne der Betroffenen gehandelt wird. Lasst uns deshalb genau hinsehen und handeln, wenn Hilfe gefragt ist.

Es wäre gut für uns alle darüber nachzudenken, was für eine Welt wir haben wollen. Ich wünsche mir eine Welt, in der das Geschlecht nicht das Schicksal eines Menschen bestimmt.

Foto: Peter Müller