Als Nina Fuchs damals die Vergewaltigung angezeigt hat, hat ihr die Polizei nicht geglaubt. Diese Erfahrung hat sie dazu bewogen, sich näher mit dem Thema Falschbeschuldigungen auseinanderzusetzen. Bei diesem Narrativ, warum Frauen Männer angeblich so häufig zu Unrecht beschuldigen, steht das Rachemotiv meist an erster Stelle. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass eine Zeug*innenaussage bei der Polizei, bei der auch unangenehmste intime Fragen beantwortet werden müssen, und eine rechtsmedizinischen Untersuchung, bei der jeder Millimeter des eigenen Körpers und jede Körperöffnung penibelst genau untersucht werden, für die betroffene Person eine extrem belastende und teilweise sogar traumatisierende Situation darstellt, der man sich wirklich nur im äußersten Notfall aussetzt. Ein weiterer Mythos ist, dass anzeigende Personen ein vermeintliches Fremdgehen vertuschen wollen. Und zu guter Letzt wird gerne noch von psychischen Erkrankungen gesprochen und davon, dass sich die Frau zwanghaft in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit spielen will. Wobei man vielleicht bedenken sollte, dass es tatsächlich wenig glamourös ist, als Vergewaltigungsopfer „berühmt“ zu werden.
Das Tragische ist, dass betroffenen Personen auch dann nicht geglaubt wird, wenn all diese Mythen ausgeschlossen werden können. Obwohl es im Fall von Nina Fuchs rein logisch betrachtet naheliegender war, dass sie die Wahrheit sagt, da es weder einen Grund noch eine Motivation gab, die auf eine Lüge hindeuteten, entschied sich der vernehmende Polizist dennoch dazu, von einer Lüge auszugehen. Woran genau liegt das? Dieser Frage ist Nina Fuchs auf den Grund gegangen. In den Medien wird immer wieder von renommierten Experten aus diesem Bereich von gewissen Zahlen und Statistiken gesprochen. Beispielsweise Professor Christian Pfeiffer, Kriminologe und ehemaliger Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen sowie ehemaliger niedersächsischer Justizminister der SPD, spricht im November 2019 bei der Tagesschau von rund 20 Prozent Falschbeschuldigungen: „Nach unserem Kenntnisstand sagt die große Mehrheit der Frauen, rund 80 Prozent, die Wahrheit und denen müssen wir gerecht werden.“ (Quelle) Die Forschung von Herrn Pfeiffer im Bereich Sexualstraftaten ist enorm relevant, da es keine vergleichbar aktuellen Zahlen in diesem Bereich gibt. Auf Nachfrage, auf welcher Grundlage diese 20 Prozent basieren, nannte Herr Pfeiffer eine Studie der kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei1 als Quelle.
Auch Rechtsanwalt Alexander Stevens, der laut seiner Website neben seiner anwaltlichen Tätigkeit gefragter Referent (u. a. für die Deutsche Richterakademie) und Rechtsexperte (u. a. für Medien und TV) ist, spricht in seiner Funktion als Moderator der RTL2-Sendung „Im Namen des Volkes“2 davon, dass es sehr unterschiedliche Studien gibt, die besagen, dass die Zahl der Falschbeschuldigungen bei Sexualdelikten zwischen 20 und 50 Prozent liegen sollen. Auf die Nachfrage hin, auf welche Studien er sich da beziehe, nannte auch er dieselbe Quelle wie Christian Pfeiffer.
Es handelt es sich dabei um die folgende Studie aus dem Jahr 2005: „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern – Opferrisiko, Opfer- und Tatverdächtigenverhalten, polizeiliche Ermittlungen, justizielle Erledigung“, die von dem Bayerischen Staatsministerium des Innern in Auftrag gegeben wurde und, wie bereits erwähnt, von der kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei ausgeführt wurde. Hauptautor*innen der Studie sind Wiebke Steffen und Erich Elsner. In Kapitel 5 der Studie geht es um eine Sachbearbeiterbefragung3 , deren Ergebnisse letztendlich für genau die Prozentzahlen verantwortlich sind, die von Christian Pfeiffer und Alexander Stevens genannt werden. Im April 2004 wurden im Rahmen der Studie insgesamt 77 Sachbearbeiter*innen befragt und in Kapitel 5.4 „Schätzungen der Sachbearbeiter zum prozentualen Anteil des Vortäuschens einer Straftattat und der falschen Verdächtigungen an allen Anzeigen gemäß § 177 StGB“ wurden die Ergebnisse dieser Befragung dargestellt. Sieben Personen machten keine Angabe und das Resultat der verbleibenden 70 Personen ergab deutliche Unterschiede in den Schätzungen: Sie lagen zwischen drei und 80 Prozent.4 Hier als Beispiel für diese massiven Unterschiede zwei Aussagen von Sachbearbeiter*innen: „Während meiner langen Tätigkeit beim ursprünglichen Kommissariat der Sitte (jetzt nunmehr K 1) gab es aus meiner Sicht sehr, sehr wenige echte Fälle. Die Regel waren Vortäuschen einer Straftat bzw. Falsche Verdächtigungen.“ und „Vorgetäuschte Delikte sind eher selten. Durch ausführliche Befragung kann der Sachverhalt geklärt werden.“5
Es ist eigentlich schon fast mutig, hier von einer Studie zu sprechen, denn eine valide Studie zeichnet sich dadurch aus, dass die Ergebnisse signifikant oder relevant sind und dass die Stichprobe repräsentativ und nicht zu klein ist. Deshalb ist es wichtig, noch einmal zu betonen, dass wir hier von der persönlichen Einschätzung von 70 Einzelpersonen sprechen. Das bedeutet, dass es sich hierbei lediglich um eine Meinungsbefragung und mitnichten um Fakten handelt. Auch der Schwankungsbereich dieser Studie verdeutlicht noch einmal, dass die Ergebnisse der Befragung keinerlei relevante oder verlässliche Rückschlüsse zulassen. Dies wirft die Frage auf, wie solche Ergebnisse allen Ernstes als repräsentative Zahlen verwendet und in der Öffentlichkeit verbreiten werden können. Auch die Autor*innen der Studie teilen diese Meinung in Bezug auf die Aussagekraft und Relevanz der Ergebnisse:
„So sehen sich etwa in Bayern insbesondere die Beauftragten der Polizei für Frauen und Kinder immer wieder mit Aussagen der (kriminal)polizeilichen Sachbearbeiter/innen konfrontiert, die von sehr hohen Anteilen an Vortäuschungen und falschen Verdächtigungen ausgehen. Ob diese Wahrnehmung der Beamten der Realität entspricht oder nicht, kann nicht beurteilt werden, da es an Untersuchungen und empirisch gesichertem Wissen fehlt. (Das ist nichts Neues: Nur ganz ausnahmsweise konnten die Zweifel von Polizei und Justiz an der Glaubwürdigkeit der Opfer, die sich wie ein roter Faden durch den Umgang der Strafverfolgungsinstanzen mit diesen Opfern – und der Kritik an ihm – ziehen, durch empirische Befunde bestätigt oder widerlegt werden).“6
Anhand dieses Zitats wird ersichtlich, dass die Zahlen, auf die sich Alexander Stevens oder Christian Pfeiffer berufen, absolut jeglicher Grundlage entbehren und somit komplett wertlos sind.
Das Paradoxe an der ganzen Situation ist, dass es für einen Mann tatsächlich deutlich wahrscheinlicher ist, selbst Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden, als fälschlicherweise der Vergewaltigung bezichtigt zu werden. 2014 erschien in der US-amerikanische Onlinezeitung Huffpost7 ein Artikel zu genau diesem Thema. Darin wird beschrieben, dass Studienergebnissen aus dem Jahr 2010 zufolge 47 Prozent der bisexuellen Männer, 40 Prozent der homosexuellen Männer und 21 Prozent der heterosexuellen Männer in den USA im Laufe ihres Lebens bereits eine Form von sexualisierter Gewalt erfahren haben. (Quelle) Weitere Forschungsergebnisse zeigen, dass mindestens einer von sechs Jungen vor ihrem 18. Lebensjahr sexuellen Missbrauch erlebten. Verschiedenste Studien aus den USA und Großbritannien zum Thema Falschbeschuldigungen hingegen haben ergeben, dass der Anteil der Falschbeschuldigungen lediglich bei zwei bis acht Prozent liegt. Diese Zahlen zeigen sehr deutlich, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Mann zu Unrecht beschuldigt wird. Dass Falschbeschuldigungen marginal sind, bekräftigt auch der bff (Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland) und beruft sich dabei auf eine Studie von Seith, Kelly und Lovett: „Entgegen der weit verbreiteten Stereotype, wonach die Quote der Falschanschuldigungen bei Vergewaltigung beträchtlich ist, liegt der Anteil bei nur 3 %.“ (Quelle). Leider ist diese Studie nicht repräsentativ, da dafür lediglich hundert Fälle der Staatsanwaltschaft Stuttgart untersucht wurden und das nicht ausreicht, um ein aussagekräftiges Bild zur gesamtdeutschen Situation zu zeichnen. Ob dieses Ergebnis dennoch deutlich repräsentativer ist als die persönliche Meinung von 70 Polizeibeamt*innen, darüber lässt sich streiten.
Niklas Ottersbach von MDR AKTUELL zitiert in seinem Artikel die Feministin Teresa Bücker, Chefredakteurin von Edition F, die sich über die Falschbeschuldigungs-Debatte und darüber, dass Fälle von sexualisierter Gewalt viel zu selten vor Gericht landen, ärgert: „Wohingegen man sagen muss, dass von den Vergewaltigungen, die jährlich allein in Deutschland geschehen, etwa 80 bis 90 Prozent überhaupt nicht zur Anzeige gebracht werden. Und würden die alle zur Anzeige gebracht werden, dann hätten wir mehrere 10.000 im Jahr.“ (Quelle) Bezieht man dieses hohe Dunkelfeld, das auch die Polizeiforscher vom bayerischen LKA bestätigen, mit ein, würden die Falschbeschuldigungen bei den höheren Fallzahlen in den Bereich unter einem Prozent zusammenschrumpfen.
Das Fatale an der ganzen Geschichte ist, dass der Mythos von den angeblich so zahlreichen Falschbeschuldigungen, und zwar besonders dann, wenn er von Expert*innen bestätigt und weiterverbreitet wird, den Nährboden dafür bereitet, dass Opfern, wie Nina Fuchs und so vielen anderen, nicht geglaubt wird – und zwar nicht nur von Polizei und Justiz, sondern auch von der Gesellschaft, vom eigenen sozialen Umfeld oder sogar von der eigenen Familie. Die absolut berechtigte Angst davor, dass man sich der Tortur einer Anzeige unterzieht und dann als Lügnerin dargestellt wird – also genau das, was Nina Fuchs erlebt hat – sorgt dafür, dass das Dunkelfeld, anstatt zu schrumpfen, weiter wächst. Es wäre sehr wünschenswert, wenn Expert*innen in Zukunft ihre Reichweite nutzen, um Opfer, die bereits aufgrund der sexualisierten Gewalt, die ihnen angetan wurde, geschädigt und traumatisiert sind, vor Retraumatisierungen zu bewahren, und die Reproduktion von Vergewaltigungsmythen unterbinden.
Außerdem benötigen wir unbedingt aktuelle repräsentative Studien zu der Thematik. Die Tatsache, dass es komplett an verlässlichen Zahlen und Fakten mangelt, zeigt nur allzu deutlich, dass das Thema nach wie vor tabuisiert und zu wenig ernst genommen wird, und das, obwohl laut Kapitel I, Artikel 11 (Datensammlung und Forschung) des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (sog. Istanbul-Konvention, die im Februar 2018 in Deutschland in Kraft getreten ist) eine gesetzliche Verpflichtung zur Datenerhebung besteht. In der Erläuterung der Istanbul-Konvention steht dazu Folgendes: „Präzise statistische Daten, die speziell auf die Opfer und die Täter und Täterinnen dieser Formen von Gewalt abzielen, sind sowohl für die Sensibilisierung der politischen Entscheidungsträger und der Öffentlichkeit für die Schwere dieses Problems als auch für die Ermutigung der Opfer und der Zeuginnen und Zeugen zur Meldung dieser Vorfälle von großer Bedeutung.“
In diesem Sinne appellieren wir auch im Namen aller Betroffenen an die Politik, dieser gesetzlichen Verpflichtung nachzukommen und damit die nicht berechtigten und nicht nachweislich belegten Zweifel von Polizei und Justiz an der Glaubwürdigkeit der Opfer endlich aus der Welt zu schaffen.
Fußnoten
1 Studie „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern“ Erich Elsner, Wiebke Steffen. München 2005
2 RTL2 „Im Namen des Volkes – Die verhängnisvolle Sex-Nacht“ vom 09.04.2020, 20.15 Uhr, Minute 16:13–16:21
3 Studie „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern“ Erich Elsner, Wiebke Steffen. München 2005. Kapitel 5: Sachbearbeiterbefragung zu den von der Staatsanwaltschaft nach § 170 II StPO eingestellten Verfahren, S.157 ff
4 Studie „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern“ Erich Elsner, Wiebke Steffen. München 2005. Kapitel 5.4: Schätzungen der Sachbearbeiter zum prozentualen Anteil des Vortäuschens einer Straftattat und der falschen Verdächtigungen an allen Anzeigen gemäß § 177 StGB, S. 160 ff
5 s. vorherige Quelle
6 Studie „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern“ Erich Elsner, Wiebke Steffen. München 2005. Kapitel 7: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse und kriminologische Wertung, S. 269
7 „Males Are More Likely To Suffer Sexual Assault Than To Be Falsely Accused Of It“ erschienen am 12.08.2014 online bei Huffpost